Rede von Dr. Silke Lesemann im Landtagsplenum am 09.10.2008

Besprechung: Wendet die Landesregierung die Bleiberechtsregelung zu restriktiv an? - Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 16/317 - Antwort der Landesregierung - Drs. 16/485

[…] Für die SPD-Fraktion hat sich Frau Dr. Lesemann zu Wort gemeldet. Bitte schön!

Dr. Silke Lesemann (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist sehr erfreulich, was vor Kurzem durch die Presse ging: Die in den Ländern für Integration zuständigen Ministerinnen und Minister bzw. Senatorinnen und Senatoren haben beschlossen, eine Integrationsministerkonferenz zu gründen. Es geht darum, eine nachhaltige Integration von zugewanderten Menschen zu befördern. Erfreulich ist: Zuwanderer sollen schneller in den Arbeitsmarkt integriert werden, Anerkennungsverfahren für im Ausland erworbene Hochschulabschlüsse sollen vereinfacht werden. Es geht darum, eine Willkommenskultur zu schaffen. Meine Damen und Herren, ich halte das für eine ausgemacht gute Sache. Denn schon lange ist bekannt, wie nötig Zuwanderung ist, um die negativen Folgen des demografischen Wandels zu stoppen.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Die Zeit der hohen Zuwanderungszahlen ist lange vorbei. Derzeit halten sich Zu- und Abwanderung in Deutschland die Waage. Auch von der Möglichkeit, Asyl zu beantragen, wird kaum mehr Gebrauch gemacht bzw. kann auch kaum mehr Gebrauch gemacht werden. 1992 - wir erinnern uns - gab es mehr als 400 000 Asylanträge in Deutschland. Im Jahr 2006 gab es nur noch 21 000. Und die Zahl geht weiter zurück.

(Editha Lorberg [CDU]: Warum denn?)

Der Bedarf an Zuwanderung von qualifizierten Beschäftigten ist hoch. Die Problemlage ist doch nicht, dass zu viele kommen, sondern die Problemstellung der nächsten Jahre lautet, dass zu wenige kommen. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen!

(Zustimmung bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Editha Lorberg [CDU]: Das sind doch zwei Paar Schuhe, von denen Sie sprechen!)

6,6 % der Bevölkerung in Niedersachsen haben eine ausländische Herkunft. Das sind ca. 530 000 Menschen. Von ihnen befanden sich am 31. Dezember 2007 18 200 als geduldete Personen in Niedersachsen. Niedersachsen wird also künftig ein Willkommensschild aufstellen, während gleichzeitig Tausende schon lange hier Lebende davon bedroht sind, dass man ihnen den Koffer vor die Tür stellt. Es geht um weniger als 20 000 Menschen in Niedersachsen. Das ist ein kleiner Bevölkerungsteil, der zum Teil schon seit Jahrzehnten hier lebt. Warum ziehen wir nicht endlich einen Strich und sagen „Die sind gekommen, um zu bleiben“? Wir müssen diese Menschen auch als Chance, als Potenzial begreifen.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Die SPD setzt sich seit Jahren mit Flüchtlings- und Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Gewerkschaften für ein Bleiberecht für langjährig in Deutschland geduldete Flüchtlinge ein.

(Editha Lorberg [CDU]: Für jedermann!)

Es hat lange gedauert, bis auch die niedersächsische CDU für eine Bleiberechtsregelung war. Immer noch gibt es Tausende, die zum Teil schon jahrzehntelang hier leben - allerdings mit der Ungewissheit, jederzeit in ein unbekanntes Schicksal abgeschoben werden zu können.

Wie der Flüchtlingsrat Niedersachsen mitteilt, ist gerade eine kurdische Familie in der Gemeinde Hatten nach Syrien abgeschoben worden. Es handelt sich um ein Ehepaar mit zwei Söhnen im Alter von zwölf und fünf Jahren. Die Familie lebte seit neun Jahren in Deutschland. Sie war vielen Menschen im Ort bekannt. Die Mutter beteiligte sich z. B. an Basaren im Kindergarten und Veranstaltungen der Kirche. Der Vater hatte eine Zeit lang eine Beschäftigung in einer Gärtnerei, aber wegen eines komplizierten Beinbruchs musste er sie aufgeben. Der ältere Sohn besuchte die 5. Klasse der örtlichen Realschule, der jüngere den Kindergarten. Die Familie war, wie zurzeit alle syrischen Kurden mit Duldungsstatus, von der Ausländerbehörde aufgefordert worden, sich bei der syrischen Botschaft neue Papiere zu besorgen. In der Hoffnung auf ein Bleiberecht war die Familie dieser Aufforderung nachgekommen. Am Tag vor der Abschiebung war das Ehepaar jedenfalls noch zu einer Untersuchung ins Gesundheitsamt bestellt worden.

Syrien ist ein Land, in dem es immer noch eklatante Menschenrechtsverletzungen und eine besondere Diskriminierung von Kurden gibt, wie z. B. der Bericht von Amnesty International zeigt. Hinzu kommt heute die Verschlechterung der Lebensbedingungen durch über 1 Million irakische Flüchtlinge. Dennoch wurde diese Familie in einer Nacht- und Nebelaktion abgeschoben. Die Behörde folgte dem bekannt harten Kurs des Bundesinnenministers und des niedersächsischen Innenministers Schünemann. Vor allem für die in Deutschland geborenen Kinder ist die Abschiebung in ein fremdes Land, nur weil die Eltern keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen, unmenschlich.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wie war das doch gleich mit der Willkommenskultur? - In einer Zeit, in der in der Öffentlichkeit für Integration und Fairness gegenüber Ausländern geworben wird, ist ein derartig brutales Vorgehen ein Schlag für alle, ob Deutsche oder Ausländer, die sich um Verständnis miteinander bemühen. Es verletzt jedes Gefühl von Gerechtigkeit.

Vielleicht wäre es der Familie anders ergangen, hätte sie in einem anderen Landkreis in Niedersachsen oder vielleicht nicht ausgerechnet in diesem Bundesland gelebt. Denn andere Bundesländer, wie z. B. Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, haben erheblich großzügigere Regelungen getroffen, wie die Statistiken des BAMF belegen. Es wäre wichtig zu wissen, aus welchen Gründen Ablehnungsbescheide erteilt werden; denn die Regelungen werden in den Bundesländern offensichtlich unterschiedlich ausgelegt. Aber gerade in diesem Bereich fällt die Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion der Grünen blamabel kurz aus: „Die Gründe für die Ablehnungen wurden nicht gesondert statistisch erfasst.“

(Filiz Polat [GRÜNE]: Das stimmt aber gar nicht! - Klaus-Peter Bachmann [SPD]: Das ist ein Armutszeugnis!)

Wer sich ein zahlenmäßiges Bild von den Betroffenen machen will, stochert im Nebel. Hierzu heißt es in der Antwort: „Eine Aufschlüsselung nach Einzelpersonen, Familien und minderjährigen Kindern ist mangels entsprechender statistischer Erhebungen nicht möglich.“ Ich kann dazu nur sagen: Eine differenzierte Statistik gehört schleunigst eingeführt!

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Immer wieder kommt in der Antwort auf die Anfrage die stereotype Formulierung - meine Vorrednerinnen von der Linken und den Grünen erwähnten es bereits -, eine Zuwanderung in die Sozialsysteme solle vermieden werden. Diesem Generalverdacht werden ganz schnell alle Menschen ausgesetzt, die keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben. Ich finde das zynisch.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Editha Lorberg [CDU]: Das stimmt doch gar nicht!)

Die Mehrzahl derjenigen, die hier unerlaubt leben, ist nicht illegal über die Grenze gekommen. Die einen sind mit einem Touristenvisum legal eingereist. Anderen wurde der Antrag auf Asyl abgelehnt.

(Hans-Christian Biallas [CDU]: Manche ohne Papiere!)

Aber sie haben trotzdem Angst, in das Land zurückzukehren, aus dem sie geflohen sind. Einige wollten hier arbeiten, andere sind als Aupairs oder Erntehelfer gekommen und nicht gleich wieder zurückgekehrt. Manche haben sich verliebt - das soll es auch geben - oder wollen hier studieren. Wer mehr über diese Menschen erfahren will, sollte sich die eindrucksvolle Ausstellung „Leben im Verborgenen“ anschauen, die in der Kreuzkirche wenige Meter von hier zu sehen ist. Das einzige Vergehen dieser Menschen bestand darin, dass sie ein-, aber nicht wieder ausgereist sind.

Deutschland ist das einzige EU-Land, das diese Menschen strafrechtlich verfolgt. Bedienstete in Krankenhäusern, in Kindergärten oder auch Schulleiter sind verpflichtet, diese Menschen zu melden. Wer Menschen ohne Papiere bei sich übernachten lässt, ihnen zu essen gibt oder einen Platz in Schule oder Kindergarten besorgt, macht sich strafbar. Aber auch hier gibt es Unterschiede zwischen den Bundesländern. Während in Nordrhein-Westfalen und Bayern irreguläre Kinder schulpflichtig sind, fehlt in Niedersachsen bislang eine entsprechende Klarstellung im Schulgesetz. Es muss doch klar sein, dass der Aufenthaltsstatus eines Kindes auch in Niedersachsen keine Rolle für die Anmeldung in der Schule spielen darf.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wenn die Integrationsministerkonferenz eine neue Willkommenskultur propagiert, gilt das auch für die Menschen, die schon hier sind? - Ich meine, das Willkommen sollte vor allem jenen gelten, die hier schon lange leben und zu dem Personenkreis gehören, den wir in der Bleiberechtsregelung gemeint haben, z. B. diejenigen, die hier Kinder bekommen haben, für die Deutschland das Heimatland ist, diejenigen, die ein hohes Maß an gesellschaftlicher Integration erreicht haben, diejenigen, deren Kinder hier zur Schule gehen oder gegangen sind oder sich in einer Ausbildung befinden, und auch diejenigen, die nur deswegen ergänzende Sozialhilfe beziehen, weil ihr Einkommen aus Arbeit aufgrund ihrer Familiensituation nicht ausreichend ist. Danke.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)