2. Rede von Dr. Silke Lesemann im Niedersächsischen Landtag am 1. Juli 2008
Rede von Dr. Silke Lesemann im Landtagsplenum am 01.07.2008 zum Tagesordnungspunkt 8:
"Erste Beratung: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Niedersächsischen Hochschulgesetzes und des Niedersächsischen Hochschulzulassungsgesetzes - Gesetzentwurf der Fraktion DIE LINKE - Drs. 16/292"
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf stimmt in einem wesentlichen Punkt mit den Vorstellungen der SPD überein. Dieser Punkt betrifft die Abschaffung der Erhebung der Studiengebühren nach § 11 Abs. 1 NHG.
(Beifall bei der SPD)
Wir lehnen die Studiengebühren für das Erststudium ab, weil wir die Zukunftsperspektive Niedersachsens sichern wollen. Da wir den übrigen vorgeschlagenen Änderungen nicht folgen können, werden wir den Gesetzentwurf allerdings ablehnen.
(Jörg Bode [FDP]: Oh, schade!)
In Niedersachsen fehlen über 6 000 Ingenieurinnen und Ingenieure. Das heißt, wir brauchen mehr Fachkräfte und mehr Menschen mit akademischer Ausbildung.
Vizepräsident Hans-Werner Schwarz: Frau Dr. Lesemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Perli?
Dr. Silke Lesemann (SPD): Nein, jetzt nicht. - Das heißt, wir brauchen mehr Fachkräfte. Wir wollen, dass in Zukunft mehr junge Menschen studieren und nicht weniger. Wir wollen junge Menschen zum Studium motivieren und nicht abschrecken, und wir wollen Studierende aus allen Bevölkerungsgruppen, unabhängig von der sozialen Herkunft, unabhängig davon, ob sie aus Migranten- oder Akademikerfamilien kommen. Hürden müssen abgebaut werden und nicht in Form von Studiengebühren neu errichtet werden. Deshalb müssen die Studiengebühren fallen.
(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)
Aber, meine Damen und Herren, wie sieht die von Schwarz-Gelb geschaffene Wirklichkeit in Niedersachsen aus? - Nach Angaben des Studentenwerkes schaffen von 100 Akademikerkindern 83 den Sprung an eine Hochschule, aber nur 23 von 100 Kindern aus Familien ohne akademische Tradition. Daran wird sich nichts ändern; denn die Landesregierung sorgt für mehr soziale Auslese an den Schulen und hat neue Hürden für den Uni-Zugang aufgebaut. Damit werden wir uns nicht abfinden.
(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)
Für die meisten Studierenden und ihre Eltern sind Gebühren eine hohe zusätzliche Belastung. 90 % werden von den Eltern unterstützt, müssen jobben und sich das Studium mitfinanzieren. Der Alltag vieler Studentinnen und Studenten sieht doch so aus: Sie pendeln zwischen Hörsaal, Nebenjob und Prüfungsvorbereitungen. Durch die Straffung der Lehrpläne infolge der Einführung von BA und MA müssen sich Studierende mehr Wissen in kürzerer Zeit aneignen. Die starren Leistungsvorgaben reduzieren mögliche Lebensweisen auf eine einzige Norm: Pauken ohne Freiraum! - Zeit für ehrenamtliches Engagement bleibt da kaum. Das Plus von 80 Euro monatlich für die Studiengebühren mag für viele von Ihnen kein Thema sein. Für die Studierenden bedeutet dies aber eine hohe zusätzliche Belastung.
(Zustimmung bei der SPD)
Die Aufnahme eines Studiengebührenkredits ist für die wenigsten ein Thema. Die meisten wollen die Studiengebühren mit mehr Jobben finanzieren. Künftig werden sie also noch mehr Jobben und noch mehr Zeit investieren, anstatt diese Zeit für ein schnelles Studium zu nutzen. Ob sich das für die Studierenden und den Staat, die Hochschulen und die Gesellschaft rechnet? - Da bin ich skeptisch. Herr Minister Stratmann wird gleich wieder behaupten, die Studiengebühren seien ein Erfolgsmodell. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass fast 76 % der niedersächsischen Studierenden gegen die Studiengebühren sind. Warum ist das so? - Weil die Verwendung der Gelder auf größte Unzufriedenheit stößt. Auf einer Notenskala von 1 bis 6 gaben die Befragten aus Niedersachsen im Schnitt die Note 4,58. In der Schule wäre das ein „gerade noch ausreichend“ bzw. „mangelhaft“. Sie sehen nicht ein, warum sie die Anschaffung von Geräten, technischer Ausstattung, Büchern und Hörsaalrenovierung selbst zahlen sollen. Das muss der Staat bezahlen, finden sie. In der Tat werden die Studiengebühren zu einem großen Teil für Investitionsmaßnahmen verwendet, für die eigentlich das Land aufkommen müsste. Auch in dieser Frage stehen wir auf der Seite der Studierenden.
(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)
Was haben die Studiengebühren den Studierenden tatsächlich gebracht? - Mehr Tutorien sind schön und gut. Zusätzliches Lehrpersonal kann aber nur für ergänzende und vertiefende Angebote eingestellt werden. Die im Gesetz festgeschriebene Verbesserung des Betreuungsverhältnisses zwischen Lehrenden und Studierenden kann schlicht und ergreifend deshalb nicht umgesetzt werden, weil die Kapazitätsverordnung dem entgegensteht. Keine Vorlesung mehr wird gehalten, kein Seminar ist kleiner, und keine Sprechstunde mehr findet statt. Herr Minister Stratmann, Sie haben es seit der Einführung des Bezahlstudiums nicht geschafft, die Studierenden von dessen Nutzen zu überzeugen. Nur 22 % unserer Studierenden empfinden eine Verbesserung der Studienbedingungen in Niedersachsen durch Gebühren. Im Ergebnis ist die von Anfang an kritische Haltung in eine offene Ablehnung umgeschlagen. Nehmen Sie doch auch in Niedersachsen endlich zur Kenntnis: Ohne jeglichen Rückhalt bei den Studierenden steht die Campus-Maut auch hier vor dem Aus. Das Bezahlstudium ist out.
(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)
Was sind nun die Folgen der Studiengebühren? - Herr Perli und Frau Dr. Heinen-Kljajić haben schon erwähnt, wie der zahlenmäßige Abschreckungseffekt aussieht. Dazu möchte ich noch eine Zahl aus 2007 ergänzen. 2007 ist beispielsweise die Zahl der Studienanfänger an niedersächsischen Fachhochschulen um 11 % gesunken. Warum? - Fachhochschüler stammen aus eher bildungsfernen, einkommensschwachen, regional orientierten Elternhäusern. Dort wirkt die Aussicht auf zusätzliche Verschuldung durch Gebühren besonders hemmend für die Aufnahme eines Studiums. Ich habe mit vielen Menschen über dieses Thema gesprochen, darunter auch mit einem Hochschulpräsidenten, der als Vater von drei studierenden Kindern ebenfalls Gebühren zahlen muss. Wenn Studiengebühren selbst in solchen Kreisen mit gutem Einkommen deutlich zu spüren sind, wie muss das dann erst in Familien mit mittlerem oder unterdurchschnittlichem Einkommen sein? Die Gebührenbefürworter argumentieren gerne, Studiengebühren sorgten für soziale Gerechtigkeit. Gerne wird an dieser Stelle das plakative Beispiel der Kassiererin zitiert, die über Steuern das kostenlose Studium des Sohnes ihres Direktors mitfinanziert.
(Beifall bei der FDP)
Dass diese Rechnung aufgeht, verhindern schon allein die sehr unterschiedlichen Einkommensteuersätze. Diese sind im Übrigen der bessere Hebel für soziale Gerechtigkeit - aber auf keinen Fall Studiengebühren.
(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)
Denn Studiengebühren wirken auf diejenigen, die wir an den Hochschulen und später auch auf dem Arbeitsmarkt brauchen, nur abschreckend. Studiengebühren schrecken bereits Benachteiligte vom höheren Bildungsweg zusätzlich ab und vertiefen die soziale Spaltung.
(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)
In diesem Zusammenhang ist es besonders bitter, dass die Landesregierung sogar Bafög-Empfänger abkassieren lässt. Das ist nicht nur zynisch, sondern vor allem widersinnig. Der Präsident des Deutschen Studentenwerks fragt zu Recht: Soll der Staat mit der einen Hand Gelder geben, damit jemand studieren kann, und ihm mit der anderen Hand das Geld wieder abnehmen, wenn er studiert? - Mit dieser Absurdität werden wir uns jedenfalls nicht abfinden.
(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, entgegen den vollmundigen Versprechungen dieser Landesregierung gibt es keine Stipendienprogramme für Begabte aus einkommensschwachen Familien. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht bereits 2005 sozialverträgliche Studiengebühren verlangt. Die einen können die Studiengebühren aus Papas Westentasche bezahlen; die anderen müssen Kredite aufnehmen und starten mit Schulden in eine ungewisse Zukunft. So sieht die soziale Gerechtigkeit dieser Landesregierung aus!
(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, wem es mit dem Ziel einer höheren Zahl von Hochschulabsolventen ernst ist, der muss die staatlichen Beihilfen erhöhen, statt sie zu senken. Kostenhürden für Studierende müssen fallen. Wir wollen Hochschulen, die allen offen stehen, die das Zeug zum Studium haben. Die SPD-Fraktion bleibt dabei: Das Erststudium muss gebührenfrei bleiben. Die Studiengebühren müssen weg! (Starker Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)