Zweite Beratung: Landesregierung muss Inhumanität beenden - Fristen beim Bleiberecht verlängern, Sozialklausel einführen


Dr. Silke Lesemann (SPD):

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nichts hält so lange wie ein Provisorium. Das gilt auch für die Flüchtlingspolitik. Beim Bleiberecht setzen die Innenminister von Bund und Ländern weiterhin auf eine Übergangslösung. Sie sind gescheitert bei der Aufgabe, geduldeten Ausländern eine Perspektive zu geben. Eine reine Verlängerung der geltenden Rechtslage reicht nicht aus, um den Herausforderungen gerecht zu werden.

Deshalb wollen wir eine Dauerlösung ohne einen neuen Stichtag. Damit entsprechen wir auch den berechtigten Forderungen der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege sowie den Integrations-, Migrations- und Ausländerbeauftragten der Länder.

(Beifall bei der SPD)

2007 wurde mit den §§ 104 a und 104 b des Aufenthaltsgesetzes eine Bleiberechtsregelung für langjährig geduldete Menschen geschaffen. Daraus ergaben sich in der Folge zahlreiche praktische Probleme, vor allem aber aus den restriktiven gesetzlichen Rahmenbedingungen. Gerade alleinerziehende, alte, kranke und behinderte Menschen konnten das Bleiberecht nicht in Anspruch nehmen, weil sie oft nicht in der Lage sind und waren, ihren Lebensunterhalt zu sichern.

Schließlich haben die Innenminister von Bund und Ländern im Dezember 2009 die Bleiberechtsregelung für langjährig geduldete Flüchtlinge vor allem auch aus Anlass der Wirtschaftskrise um zwei Jahre verlängert. Diese kurze Atempause bedeutet für die ca. 22 000 Betroffenen in Niedersachsen einen Aufschub um weitere zwei Jahre. Ihnen soll dieser Zeitgewinn die Chance zur Sicherung ihres Lebensunterhalts ermöglichen.

Eine Härtefallregelung für alte und kranke Menschen, für Arbeitsunfähige und Traumatisierte fehlt weiterhin. Die ungerechte Stichtagsregelung ist nach wie vor geblieben. Damit nutzt dieser Beschluss auch denjenigen nichts, die jetzt bereits wieder seit sechs oder mehr Jahren hier geduldet werden. Wer bisher nicht unter die Regelung des § 104 des Aufenthaltsgesetzes gefallen ist, dem hilft der Beschluss nicht weiter.

Das Bleiberecht bleibt also ein thematischer Dauerbrenner; denn bis 2012 soll eine weitere Regelung gefunden werden. Mit dem vorliegenden Änderungsantrag von SPD und Grünen, der einen Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion aufgreift, fordern wir die Landesregierung zu einer Bundesratsinitiative auf.

Erstens. Zur Vermeidung weiterer Kettenduldungen brauchen wir eine Regelung ohne festen Stichtag. Künftig - das hat auch Frau Polat schon gesagt - soll es eine rollierende Regelung geben. Sie soll den Erwerb einer Aufenthaltserlaubnis nach einem fünfjährigem rechtmäßigen oder geduldeten Aufenthalt ermöglichen.

Zweitens. Die Anforderungen an die Lebensunterhaltssicherung werden abgesenkt, sodass auch das ernsthafte Bemühen um Arbeit als ausreichend erachtet wird.

Drittens. Wir fordern eine eigenständige Regelung für Minderjährige, die bei einer günstigen Integrationsprognose bereits nach vier Jahren eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Das gilt auch für Personen, die in Deutschland einen Schulabschluss machen.

Viertens. Wir benötigen für Altfälle von einem Jahrzehnt oder mehr noch weiter reichende Ausnahmen von den allgemeinen Voraussetzungen.
Mit unserer Initiative sollen geduldete Menschen eine bessere Perspektive auf Integration erhalten. Wir wollen damit Kettenduldungen beenden und neue Kettenduldungen vermeiden.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Eigentlich müsste die FDP mit diesem Vorschlag einverstanden sein. Herr Oetjen hat ja bereits in der ersten Beratung im Juni 2009 eine Verlängerung um zwei Jahre für falsch erachtet, eine humanitär orientierte Regelung und insbesondere die Berücksichtigung von in Deutschland aufgewachsenen Kindern gefordert sowie Kettenduldungen abgelehnt. Herr Oetjen, jetzt liegt Ihnen eine solche Initiative vor. Machen Sie doch mit und stimmen Sie uns zu!

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Seit gestern wissen wir: Die Regierung will nun auch endlich mehr für die Integration von Migranten leisten. Mehr Lehrer mit ausländischen Wurzeln sollen eingestellt werden. Haben Sie denn ganz vergessen, dass Sie im vergangenen Jahr den SPD-Antrag „Studierende mit Migrationserfahrung in Lehrämter“ rundheraus abgelehnt haben?

Endlich wird die Notwendigkeit zur arbeitsmarktpolitischen Integration erkannt. Das Vorurteil, Zuwanderer würden den Sozialstaat Deutschland nur ausnutzen, haben Sie viel zu lange genährt. Viele Migranten sind ohne Jobchance, weil das Ausländerrecht die Jobannahme verhindert. Nur 60 % der Einwanderer aus Nicht-EU-Ländern haben freien Zugang zum Arbeitsmarkt.

Wer Flüchtlingen die Arbeitssuche erschwert, darf sich nicht wundern, wenn sie von Sozialhilfe leben müssen. Die hier geduldeten Ausländer brauchen vor allem das Recht, zu arbeiten.
Unser Asyl- und Aufenthaltsrecht ist darauf ausgerichtet, einem Flüchtling - -

Vizepräsident Dieter Möhrmann:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Aller? - Ja.

Heinrich Aller (SPD):
Frau Kollegin, fänden Sie es angemessen, wenn die mindestens teilweise zuständige Ministerin sich diesem Thema widmen würde? Der Innenminister ist präsent; das weiß ich. Aber vielleicht könnte auch die neue Ministerin zuhören.

(Zurufe von der CDU: Sie ist doch da!)

Dr. Silke Lesemann (SPD):
Wo ist sie denn?

(Ministerin Aygül Özkan nimmt auf der Regierungsbank Platz)

Da ist sie! Sie saß in einer anderen Reihe.

(Unruhe)

Vizepräsident Dieter Möhrmann:
Frau Kollegin, fahren Sie bitte fort!

Dr. Silke Lesemann (SPD):
Wer die Arbeitssuche erschwert, darf sich nicht wundern, wenn Flüchtlinge von Sozialhilfe leben müssen. Die hier geduldeten Ausländer brauchen vor allem das Recht, zu arbeiten.

Unser Asyl- und Aufenthaltsrecht ist darauf ausgerichtet, einem Flüchtling lange einen Job zu verwehren. Er muss von Sozialgeld leben, ob er will oder nicht. Das ist es, was dem Sozialsystem schadet und für die Betroffenen anschließend zum Bumerang wird.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Die knapp 100 000 Geduldeten in Deutschland leben in einem Teufelskreis. Einerseits wird ihnen vorgeworfen, sie machten es sich auf Kosten der Deutschen bequem; dadurch werden sie zum Hassobjekt für Rechtsradikale. Andererseits verbietet man ihnen, wie jeder andere arbeiten zu gehen. Während des ersten Jahres in Deutschland dürfen sie nicht arbeiten; anschließend dürfen sie aufgrund der Vorrangregelung nur solche Jobs annehmen, die weder ein Deutscher noch ein EU-Bürger oder ein Nachfahre der ehemaligen Gastarbeiter haben will. Das ist doch so, meine Damen und Herren, als würde man jemanden fesseln und ihm dann vorwerfen, dass er nicht weglaufen kann.

Meine Damen und Herren, wir müssen im Bleiberecht dazu kommen, dass wir nicht immer neue Geduldete produzieren. Eine Aufenthaltserlaubnis muss erteilt werden können, wenn die Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist. Vor allem gilt dies in humanitären Fällen und für Kinder und Jugendliche. Wir brauchen eine Regelung, die verhindert, dass immer wieder neue Altfälle geschaffen werden.
Danke.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)