Erste Beratung: Neukonzeption des Plenarbereichs des Niedersächsischen Landtages

Dr. Silke Lesemann (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Man sieht nur, was man weiß.“ So lautet eine auf die Kunstbetrachtung bezogene Äußerung Goethes. Dies gilt auch für diesen Plenarsaal. Wer sich näher mit ihm beschäftigt, der wird begreifen, warum er nicht einfach einem Glastempel Platz machen darf. Als ein herausragendes Symbol für den spezifisch niedersächsischen Weg der jungen Demokratie ist dieses Gebäude mit gutem Grund ein Baudenkmal. Es ist ein Meilenstein demokratischer Architektur und ein fundamentaler Beitrag zur Architekturgeschichte der Bundesrepublik. Mit einer Abrissentscheidung verlöre Niedersachsen selbst ein unverzichtbares Zeugnis seiner parlamentarischen Geschichte. Das, meine Damen und Herren, sollten wir nicht zulassen.

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Sollen wir uns denn in spätestens 50 Jahren fragen lassen, warum wir einen Abriss nicht verhindert haben? - Nein: Wir sind zu einer umsichtigen und respektvollen Entscheidung im Umgang mit diesem geschichtsträchtigen Haus aufgefordert - und das nicht allein, um uns gegen den Vorwurf der Geschichtsvergessenheit zu wehren.
Es steht viel mehr auf dem Spiel: der Verlust von Glaubwürdigkeit. Die Länderhoheit bei Kultur und Denkmalschutz bedeutet eine besondere Vorbildfunktion und Verantwortung. Das Denkmalschutzgesetz ist ein Gesetz dieses Hauses. Und wenn der oberste Denkmalschützer Niedersachsens den Abriss als einen Verstoß gegen das Denkmalschutzgesetz wertet, dann sollten wir uns nicht wundern, wenn Politik einen Autoritätsverlust erleidet.

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Bürgerinnen und Bürger würden zwangsläufig fragen, warum manche vor dem Gesetz gleicher sind als andere. Dieser Diskussion sollten wir nicht Vorschub leisten, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Die erst im August 2009 vom Wissenschaftsminister eingesetzte Landesdenkmalkommission Niedersachsen warnt zu Recht vor der „Aushöhlung der kulturpolitischen Glaubwürdigkeit“. Immerhin weist das Niedersächsische Denkmalschutzgesetz dem Land eine besondere Pflicht zu, nämlich „die ihnen gehörenden und die von ihnen genutzten Kulturdenkmale zu pflegen“. Ein Opfer hätte die Abrissentscheidung in jedem Fall: das Niedersächsische Denkmalschutzgesetz. Das können wir nicht zulassen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Liebe Neubaubefürworter, Politik gerät in eine Glaubwürdigkeitsfalle, wenn beim Denkmalschutz mit zweierlei Maß gemessen wird. Was will ein Bundesland, das ohne zwingenden Grund eigene Denkmale zerstört, von den Bürgern künftig erwarten? Auf Ihre Antwort bin ich gespannt.

„Haben wir in Niedersachsen jeden Respekt verloren?“ Diese Frage des ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Gottfried Mahrenholz, gilt nicht nur für das Oesterlen-Gebäude, sondern auch für die Gesetze, die wir hier beschließen. Diese Gesetze müssen doch zuallererst für uns gelten, meine Damen und Herren.
Ein Eingriff in das Baudenkmal Landtag oder dessen Abriss ist laut Denkmalschutzgesetz nur dann möglich, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse dieses verlangt. Aber wo bleibt der Nachweis dieses öffentlichen Interesses? Bislang - ich schaue nach draußen; vorhin konnte ich es tun - wird doch ganz deutlich ein öffentliches Interesse am Erhalt dieses Hauses vorgebracht.
Parlamentsbauten müssen Anforderungen in Bezug auf Zweckmäßigkeit, Repräsentation und Denkmalpflege genügen. Denkmalschutz ist keine fundamentalistische Idee, die Weiterentwicklung und Benutzerfreundlichkeit ablehnt.
Wie der Oesterlen-Bau unter Einhaltung von Prinzipien des Denkmalschutzes weiterentwickelt werden und heutige Anforderungen erfüllen kann, zeigt der einzige denkmalrechtlich akzeptable Entwurf des Wettbewerbs, der von Gebhardt. Dahin gehend hat sich auch der oberste Denkmalschützer Winghart öffentlich sowie in der Baukommission des Landtags geäußert; Herr Hagenah hat bereits darauf hingewiesen.
Der gebhardtsche Entwurf - wie auch schon der Preisträger von 2002 - überzeugt funktional und trägt den Erfordernissen des Parlamentarismus im 21. Jahrhundert Rechnung. Warum also sollte abgerissen werden, wenn der Umbau im Bestand möglich ist?

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Das Zitat „In Ehrfurcht vor dem Alten, mit Mut zum Neuen“ wurde zwar vorhin schon einmal angeführt. Es ist heute aber absolut passend. Diese Worte von Oesterlen bei der Grundsteinlegung für den Neubau des Niedersächsischen Landtags am 30. September 1958 charakterisieren auch die Idee des gebhardtschen Entwurfs. Das Motto sollte lauten: Das Vergangene in die Gegenwart tragen.
Denkmalschutz braucht überzeitliches Denken und darf nicht dem Zeitgeschmack untergeordnet werden. Wir sind heute aufgefordert, keine emotionale Bauchentscheidung zu fällen, sondern eine verantwortungsbewusste Kopfentscheidung.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Lassen Sie bitte die Abrissbirne aus dem Spiel!

Danke.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)