12. Rede von Dr. Silke Lesemann im Niedersächsischen Landtag am 25. November 2009
Einzige (abschließende) Beratung:
Frauen bewegen Geschichte - Kerncurricula anpassen
Dr. Silke Lesemann (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was taten eigentlich die Frauen, als die Männer das machten, worüber wir im Unterricht reden? - Das fragen sich nicht nur viele Schülerinnen im Geschichtsunterricht, diese Frage müssen auch wir uns stellen. Noch viel zu häufig nämlich wird Geschichte als Abfolge von Haupt- und Staatsaktionen unterrichtet. Kaiser, Könige und Krieger stehen im Mittelpunkt.
Geschichte ist nicht neutral und auch nicht objektiv. Historiker - in der Regel Männer - schrieben eine Geschichte aus männlicher Perspektive und erklärten ihre Forschung zur allgemeinen Geschichte. Frauen als handelnde Personen? - Fehlanzeige!
Das fehlende Kapitel der anderen Hälfte der Menschheit muss ergänzt werden. Aber eine rein ergänzende Frauengeschichte, liebe Frau Twesten, entspricht nicht mehr dem Stand der Forschung.
(Beifall bei der SPD)
Es geht um mehr. Es geht um den Anspruch einer allgemeinen Geschichte unter Einbeziehung beider Geschlechter. Das bedeutet, im Rahmen historischer Forschung die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, aber auch die der Geschlechter untereinander zu untersuchen. Wichtig ist, dass die Geschlechtergeschichte als eigene historische Dimension und nicht als Teil der Sozialgeschichte gesehen wird; denn sie kann sich geschlechtsspezifisch aller Methoden der Geschichtsschreibung bedienen.
Schulbuchautoren und Verfasser von Geschichtscurricula müssen aktuelle Forschungsergebnisse aufnehmen. Die brillanten Ergebnisse der sich seit Jahrzehnten international etablierenden Frauen- und Geschlechtergeschichte müssen in die Kerncurricula eingepasst werden. Deswegen hat die SPD-Fraktion einen Änderungsantrag vorgelegt.
(Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren, Geschichte stiftet Identität. Die Identitätsfindung der Jugendlichen aber ist ohne bewusste Einbeziehung des Genderaspektes schlecht denkbar. Auch der Geschichtsunterricht muss sich darauf einstellen. Mädchen bekunden ein anderes Interesse an Geschichte als Jungen. Im Geschichtsunterricht kann die Berücksichtigung der Geschlechtergeschichte Männer, Mädchen und Jungen in ihrer Identitätsfindung stärken. Durch diese Auseinandersetzung wird auch eine kritische Reflexion der persönlich erlebten Gegenwart möglich, und das ist doch letztendlich ein zentraler Anspruch von Geschichtsunterricht.
(Beifall bei der SPD)
Allerdings drängen sich einige Fragen auf:
Brauchen Mädchen Heldinnen? - Das fragte heute z. B. auch die taz, und Geschichtsprofessor Michael Sauer problematisierte diese Frage.
Müssen Frauen aus dem Dunkel der Geschichte stärker ans Licht geholt werden?
Soll die Geschichte großer Frauen ausführlicher dargestellt werden?
In einem wichtigen Punkt stimmen wir mit dem Antrag der Grünen überein: Die Rolle der Frauen war in der Vergangenheit bedeutender, als es die Geschichtsbücher ausweisen. - Das ist klar. Aber reicht es denn aus, den „großen“ Männern von gestern die „großen“ Frauen an die Seite zu stellen? - Natürlich nicht.
(Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren, hier liegt auch der Unterschied zum Antrag der Grünen. Spannender ist es doch, zu zeigen, mit welchen Mitteln Frauen weitestgehend einflusslos gehalten wurden: Wie wurde der Unterschied zwischen Frau und Mann in eine - keineswegs statische, sondern immer historisch veränderbare Herrschaftsbeziehung verwandelt? - Das ist doch die spannende Frage. Denken Sie an die Ungleichbehandlung im Erb- und Wirtschaftsrecht, bei der Ausübung von politischer Mitsprache! Diese Tatsachen sind im Geschichtsunterricht zu benennen und auch bewusst zu machen.
Ein gewissenhaftes Aufsammeln aller Ausnahmen und deren bevorzugte Nennung könnte das Problem in den Augen der SchülerInnen - diesmal mit großem I - verkürzen: Wenn immer wieder Frauen hervorgehoben werden, dann kann es mit Ausgrenzung und Unterprivilegierung doch nicht so schlimm gewesen sein.
Wie also können wir zu einer geschlechtergerechten Geschichtsschreibung kommen? - Geschlechtergeschichte ist - davon gehe ich aus - ein Thema für Mädchen und Jungen. Durch andere Quellen und neue Aspekte fühlen sich nämlich beide Geschlechter angesprochen. Das kann gelingen, wenn sich die Geschichte mehr an der Alltags-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte orientiert.
(Reinhold Coenen [CDU]: Die Gegenwart!)
Dann sind Antworten auf die Frage, was die Frauen taten, als die Männer das machten, worüber wir im Geschichtsunterricht reden, leichter zu finden.
(Beifall bei der SPD)
Ein Blick in die Rahmenrichtlinien des Landes Sachsen-Anhalt zeigt, wie das gehen kann:
„Deshalb muss historisches Wissen herangezogen werden, um gegenwärtige Probleme, typische Situationen im Leben von Menschen (Kindheit, Ehe, Arbeit …) und politische Entscheidungsbedürfnisse (Krieg, Frieden …) zu untersuchen. Das Verknüpfen gegenwärtiger wie künftiger Erfahrungen, Aufgaben und Probleme von Schülerinnen und Schülern mit historischen Erfahrungen ist Grundlage für ein Verständnis von Geschichte als Entwicklungszusammenhang, der die eigenen gegenwärtigen und künftigen Lebenssituationen beeinflusst.“
Meine Damen und Herren, wir streiten hier nicht um eine Nuance, wir streiten um eine prinzipielle Sichtweise auf Geschichte. Meine Fraktion hält es für eine Gesellschaft nicht für folgenlos, wenn sie von Geschlechtsstereotypen geprägt wird. Deshalb gehört es dazu, zu erklären, was geschlechtsspezifische Normen bewirken. Soziale Rollenzuweisungen bestimmen das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Aufgabe eines modernen Geschichtsunterrichts ist es, aufzuzeigen, wie sie sich im Laufe der Geschichte verändert haben und weiterhin verändern.
Fazit: Es geht also nicht um ein Plus, um ein Hinzufügen von Frauen, sondern um eine andere Sichtweise auf Geschichte. Deshalb müssen wir die Geschichtscurricula ändern.
(Beifall bei der SPD)