10. Rede von Dr. Silke Lesemann im Niedersächsischen Landtag am 17. Juni 2009
Rede von Dr. Silke Lesemann im Landtagsplenum am 17.06.2009
Besprechung: Soziale Lage der Studierenden in Niedersachsen - Große Anfrage der Fraktion der SPD - Drs. 16/603 - Antwort der Landesregierung - Drs. 16/1175
Dr. Silke Lesemann (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Geld, Gebühren, Bachelor - das ist das Dreigestirn, das Niedersachsens Studierende unter Druck setzt. Denn hier gilt das Motto: Nur wer Scheine hat, kann auch Scheine machen. Jeder dritte Studierende liegt mit seinen Einnahmen unter dem neuen BAföG-Höchstsatz von 648 Euro. Für diese Studierenden sind 500 Euro Studiengebühren beileibe kein Kleckerbetrag.
(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)
Dabei können die Hochschulen gar nicht so viel ausgeben, wie sie an Studiengebühren einnehmen, wie wir immer wieder den Presseartikeln entnehmen können. Mit dem Geld soll die Lehre verbessert werden, doch finanziert werden Fernreisen, USB-Sticks, Espressomaschinen oder auch Drachenboote.
(Zuruf von der SPD: Unerhört!)
Die Unis sammeln auf ihren Rückstellungskonten immer größere Geldberge an, weil die Studiengebühren nicht hinreichend ausgegeben werden, während sich Studierende das Geld vom Munde absparen müssen. Kein Wunder, dass heute an zahlreichen Universitäten und Hochschulen gestreikt wird. Wir als SPD bleiben dabei: Diese Hochschulpolitik ist unsozial. Die Studiengebühren müssen weg.
(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)
Zunächst möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des zuständigen Ministeriums meinen Dank und meine Anerkennung für die Beantwortung der zahlreichen Fragen aussprechen. Die Antworten sind für uns grundlegend für die weitere Erarbeitung von Initiativen zur Verbesserung der Studienbedingungen und für die Qualitätsentwicklung der Studien- und Serviceberatungsangebote. Im Wesentlichen basieren die Aussagen auf der vom HIS durchgeführten 18. Sozialerhebung zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Studierenden in Deutschland. Die Daten stammen aus dem Jahr 2006. Zurzeit werden neue Daten erhoben, denen dann entnommen werden kann, wie sich die Studiengebühren tatsächlich auswirken.
(Dr. Gabriele Andretta [SPD]: Die nächste Anfrage kommt!)
Natürlich sind viele Aspekte auf die eine oder andere Weise spannend. Mit besonderem Interesse habe ich allerdings die Antworten auf die Fragen zur Situation von Studierenden mit Kind, von ausländischen Studierenden und auch von Studierenden mit Behinderungen gelesen. Was auf Studierende im Allgemeinen zutrifft, trifft auf die Studierenden der genannten Gruppen in zugespitzter Form umso mehr zu. Meine Damen und Herren, 80 % der Studierenden wünschen sich eine Zukunft mit Kindern und Beruf. 44 % denken dabei sogar an zwei Kinder. Die Verwirklichung dieses Wunsches rückt für viele allerdings in weite Ferne, wie wir erkennen können. Das ist schade. Darum müssen wir etwas ändern, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD)
Künftige Akademikerinnen und Akademiker könnten durch Elternschaft bereits im Studium den Zeitstau umgehen, den viele von ihnen empfinden, wenn es darum geht, in einem schmalen Zeitfenster zwischen Ende 20 und Anfang/Mitte oder gar Ende 30 Kinder, Karriere und Konsum unterzubringen. Doch wann ist der richtige Zeitpunkt für Kinder? - Das hat sich sicherlich auch mancher von Ihnen hier schon gefragt. Für viele Akademikerinnen nie, aber für manche schon mitten im Studium. Nur ca. 7 % der Studierenden in Niedersachsen haben jedoch Kinder. Mütter und Väter an der Uni können oft nur mit halber Kraft studieren. Unter ihnen sind vergleichsweise zahlreiche Studienabbrecher; denn mit Kind zu studieren ist und bleibt eine Gratwanderung. Studium, Kindererziehung und die Sicherung des Lebensunterhaltes unter einen Hut zu bringen, ist angewandte Lebenskunst und setzt bei Vätern und Müttern eine ausdauernde Energie sowie eine sehr gute Arbeits- und Zeitplanung voraus.
(Zustimmung bei der SPD)
In Niedersachsen muss noch eine ganze Menge getan werden, damit die Rahmenbedingungen für studierende Eltern stimmen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD)
Die starre Studienstruktur insbesondere in den BA/MA-Studiengängen ist ein Problem. Ohne Umstrukturierungen in diesem Bereich wird das Studium für Studierende mit Kind nahezu unmöglich gemacht. 30 Semesterwochenstunden mit den entsprechenden Vor- und Nachbereitungszeiten addieren sich rasch auf knapp 90 Stunden pro Woche. Seminare, die zum Teil bis 20 Uhr dauern, stellen Eltern vor hohe Hürden. Wer übernimmt dann die Kinderbetreuung? - Kitas schließen in der Regel früher. Auch an dieser Stelle wird akuter Handlungsbedarf sichtbar; denn nicht jede Hochschule hat eine Notfallkinderbetreuung. Hier ist es besonders wichtig, dass endlich vor allem genügend Seminare angeboten werden, die sich an den Öffnungszeiten der Kindertagesstätten orientieren. An einigen niedersächsischen Hochschulen sind Teilzeitstudiengänge eingeführt worden. Das Problem der studierenden Eltern ist aber, dass Stipendienprogramme und BAföG-Zahlungen nicht auf ein Teilzeitstudium ausgerichtet sind. Aber auch hier werden wir aktiv werden.
(Beifall bei der SPD)
Studierende mit Kindern sollen sich an den Hochschulen natürlich willkommen fühlen. Vielfach wird Kinderbetreuung aber noch als Privatproblem der Studierenden angesehen. Dabei ist es eine familienpolitische und angesichts aktueller Diskussionen auch eine vordringlich hochschulpolitische Aufgabe, Studium und Elternschaft vereinbar zu machen.
(Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren, der zeitliche Spagat zwischen Studium, Kindererziehung und Erwerbstätigkeit wirkt sich vor allem bei Alleinerziehenden - das sind in der Regel überwiegend Frauen - nachteilig auf den Studienverlauf aus. Einige Hochschulen schmücken sich inzwischen mit dem Label der Hertie-Stiftung und wollen Familienfreundlichkeit auch wirklich leben. Doch das muss mehr sein, als nur Wickeltische aufzustellen und Eltern-Kind-Räume einzurichten. Studierende mit Kind brauchen mehr. Sie brauchen angemessene Flexibilität im Studienverlauf. Sie brauchen elterngerechte Teilzeit- und BAföG-Regelungen. Sie brauchen flexible, auf die universitären Zeitstrukturen abgestimmte Betreuungsmöglichkeiten. Sie brauchen die Berücksichtigung von Elternschaft in Studien- und Prüfungsordnungen. Sie brauchen vor allem aber auch zeit- und präsenzunabhängige Studienformen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD)
Die Antworten der Landesregierung zeigen allerdings auch: Von flächendeckend familienfreundlichen Studienbedingungen sind wir in Niedersachsen noch weit entfernt. Herr Minister Stratmann, hier gibt es noch eine ganze Menge zu tun. Es ist höchste Zeit dafür.
(Beifall bei der SPD)
Während sich Familienfreundlichkeit an Hochschulen erst allmählich als Qualitätsmerkmal etabliert, gilt das für das Thema Internationalisierung schon länger. Die Hochschulen verfolgen Internationalisierungsstrategien und bemühen sich mit Erfolg um mehr ausländische Studierende. Allerdings beklagen die Hochschulen eine zu restriktive Auslegung der Aufenthaltsbedingungen mit der Folge, dass ausländische Studierende aus Nicht-EU-Ländern ihr Studium immer nur für jeweils ein Jahr planen können. Auch wenn die Gründe dafür zum Teil nachvollziehbar im sicherheitspolitischen Bereich liegen, bedeutet diese Praxis eine erhebliche Beschwernis für die Betroffenen. Wer einen Bachelorabschluss machen will, muss in dieser Zeit sage und schreibe viermal bei der Ausländerbehörde vorstellig werden.
(Zuruf von der SPD: Unerhört!)
Das halten wir für völlig überzogen.
(Beifall bei der SPD)
Die Verhältnismäßigkeit zwischen sicherheitspolitischen Aspekten und berechtigten Interessen von ausländischen Studierenden in Bezug auf ihr Studium ist nicht mehr gegeben. Wir müssen das ändern. Die meisten der in Deutschland studierenden Ausländer kommen aus Entwicklungs- und Schwellenländern. 85 % organisieren ihr Studium selbst. Ihre größten Schwierigkeiten: die Orientierung im deutschen Studiensystem, der mangelnde Kontakt zu deutschen Kommilitoninnen und Kommilitonen sowie die Studienfinanzierung. Die Integration der ausländischen Studierenden - das ist wichtig - muss deutlich besser werden.
(Beifall bei der SPD)
Zu begrüßen sind daher interkulturelle Trainings und Hochschullotsen an unseren Hochschulen und Universitäten. Das sind aber nur erste Schritte. Wichtig ist vor allem der Ausbau der sozialen Infrastruktur. Gerade Wohnheimplätze werden in Niedersachsen von ausländischen Studierenden überdurchschnittlich hoch nachgefragt. Studentenwerke wie z. B. die in Hannover und Osnabrück fördern mit ihren Wohnheimtutorenprogrammen die Integration dieser Studierenden. Das ist soweit gut. Sie benötigen allerdings auch frühzeitig ausreichende Informationen über das deutsche Studiensystem.
Die vielen aktuellen Hochschulreformen - voran die Umstellung auf Bachelor und Master - erschweren den ausländischen Studierenden die Orientierung im deutschen Studiensystem zusätzlich. Mehr noch als deutsche leiden ausländische Studierende unter einer angespannten Finanzlage. Gerade die wirtschaftliche und soziale Situation ausländischer Studierender vor allem aus Nicht-EU-Ländern ist nach wie vor schwierig und hindert ihren Studienerfolg. Wer die Attraktivität Niedersachsens als Studienort nachhaltig sichern und den Studienerfolg international Studierender unterstützen will, Herr Minister, der steht auch in der Verantwortung, die wirtschaftliche und soziale Studieninfrastruktur auszubauen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)
Sie ist ein genauso wichtiger Faktor für den Studienerfolg wie gute Lehre und fachliche Betreuung. Es gibt noch eine weitere Gruppe von Studierenden, die mehr Aufmerksamkeit erfahren sollte. 18 % der Studierenden in Niedersachsen haben eine Behinderung oder sind chronisch krank. Noch immer fehlen an den Hochschulen gleichwertige Bedingungen für Studierende mit Behinderung oder mit chronischer Krankheit. Auf die spezifischen Beratungs- und Unterstützungsbedürfnisse - Stichwort „Barrierefreiheit“ - sind die Hochschulen nur unzureichend eingestellt, also weder infrastrukturell noch bei den Studien- und Prüfungsordnungen. Das hat für den Betroffenen Auswirkungen, das Studium dauert länger.
Wir als SPD fordern den Wegfall von Studiengebühren. Aber sie Studierenden mit Behinderung oder chronischer Krankheit abzunehmen, ist in höchstem Maße unanständig. Bis auf Baden-Württemberg und Niedersachsen haben die Länder übrigens den Anspruch auf Nachteilsausgleich bei Prüfungen für Studierende mit Behinderung explizit in ihren Studienverordnungen verankert. Ganz aktuell hat die HRK mit der Empfehlung „Eine Hochschule für alle“ beschlossen, Maßnahmen für mehr Chancengleichheit einzuleiten. Sie empfiehlt u. a., mehr Einzelfallentscheidungen zu ermöglichen, Gebäude und Informationsangebote barrierefrei zu gestalten, die Mitarbeiter aller Beratungs- und Serviceeinrichtungen zu schulen sowie bei Finanzierungsfragen für Behinderte einen Mehrbedarf anzusetzen. Auch hier, Minister Stratmann, sind Sie gefordert. Hierher gehört aber auch das Versprechen, Herr Minister, einen zentralen Stipendienfonds einzurichten. Außer in Ankündigungen hat sich der zentrale Stipendienfonds noch nicht realisiert. Es ist wirklich schon ein starkes Stück, sich für ein Stipendienprogramm für besonders Begabte und ehrenamtlich Engagierte feiern zu lassen, welches die Allgemeinheit der Studierenden selbst durch ihre Studiengebühren bezahlt. Der Versuch, durch ein Stipendienprogramm, gespeist aus Studiengebühren, die Akzeptanz für Studiengebühren zu erhöhen, ist einfach nur noch lächerlich, meine Damen und Herren. Vielen Dank.
(Starker, anhaltender Beifall bei der SPD - Dr. Gabriele Andretta [SPD]: Das ist ein Skandal!)