Rede von Dr. Silke Lesemann im Landtagsplenum am 06.06.2008 zum Tagesordnungspunkt "Qualifizierungsoffensive unterstützen Hochschul und Weiterbildung gewährleisten"
auf Antrag der Fraktionen von CDU und FDP

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In vielen Punkten sind wir sicherlich einer Meinung, Herr Nacke. Dies habe ich an Ihrer Rede gehört. Es freut mich, dass auch Sie das so gesagt haben. Bildung ist auch für uns der Schlüssel für die Zukunft unseres rohstoffarmen Landes. Wir wissen aber auch: Chancen und Risiken auf dem Arbeitsmarkt hängen sehr davon ab, wo man in der Bildungshierarchie steht. Bildung ermöglicht sozialen Aufstieg. Dies ist nicht nur eine Frage von gesellschaftlicher Teilhabe, sondern auch eine Frage von Zukunftssicherung und vor allen Dingen eine Frage von sozialer Gerechtigkeit.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

In der Analyse mögen wir oft ähnlich denken. Die Gemeinsamkeit hört aber leider beim politischen Handeln auf. Wir wollen, dass Menschen ihre Talente und Fähigkeiten unabhängig von Herkunft und sozialem Status entfalten können.

(Professor Dr. Dr. Roland Zielke [FDP]: Das wollen auch wir!)

Ich nenne hier nur die Stichworte „gegliedertes Schulsystem versus Gesamtschule“ und „Studiengebühren versus Gebührenfreiheit“.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Eine neue Chance auf ein Mehr für Bildung gibt es jetzt. Nutzen wir diese Chance! Bund und Länder haben sich im Dezember 2007 auf die Qualifizierungsinitiative geeinigt. Die Fachminister der Länder sollen bis zum Herbst 2008 eine Qualifizierungsinitiative für Deutschland erstellen. Die Ziele lauten: Bildungschancen für alle stärken, ein durchlässigeres Bildungssystem und Innovation unterstützen.

Meine Damen und Herren, ja, wir brauchen mehr Fachkräfte, und wir brauchen auch mehr Akademiker. Der Arbeitsmarkt verlangt es so. Unbesetzte Stellen im Handwerk, im Erziehungs- und Pflegebereich und besonders der Ingenieurmangel verhindern wirtschaftlichen Erfolg. Schon jetzt fehlen laut BDI in Niedersachsen 2 000 Ingenieure. Woran liegt das? Viel zu wenige junge Menschen nehmen ein Hochschulstudium auf. Studieren im OECD-Durchschnitt 54 % eines Altersjahrgangs, so sind es in Deutschland nur 37 %. Selbst davon ist Niedersachsen weit entfernt. Mit einer Studierquote von 29 % sind wir die Letzten in dieser Riege.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Unerhört!)

Für die internationale Wettbewerbsfähigkeit und zur Deckung des Fachkräftebedarfs brauchen wir mehr Studierende.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Die Bundesregierung hat das Ziel klar genannt: Künftig sollen 40 % eines Jahrgangs studieren. Auch der Ministerpräsident hat dieses Ziel ausgegeben.

(Johanne Modder [SPD]: Der hat schon viel gesagt!)

Aber wo sind die Taten? Die Politik produziert hier in Niedersachsen Ankündigungen statt Taten!

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Wir müssen uns den Herausforderungen stellen und mehr junge Menschen zum Studieren ermutigen. Das Reservoir an Talenten und Fähigkeiten wird an seiner Entfaltung gehindert. Ich frage Sie: Wie lange wollen Sie es noch ertragen, dass es nicht die Leistung ist, sondern die soziale Herkunft der Schülerinnen und Schüler, die über ihren Bildungserfolg entscheidet?

(Zustimmung von Pia-Beate Zimmermann [LINKE])

Es geht um mehr Chancengleichheit, aber auch um ökonomische Vernunft. Soll Niedersachsen im Wettbewerb um hoch qualifizierte Fachkräfte nicht das Nachsehen haben, müssen wir alles tun, um die Bildungspotenziale auszuschöpfen. Machen Sie doch endlich Schluss damit, die Bildungschancen von Kindern schon nach Klasse 4 zu verteilen,

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

wohl wissend, dass damit für Kinder aus Arbeiter- und Migrantenfamilien die Chance auf ein Studium gegen null tendiert. Sie wissen dies alles. Aber warum tun Sie nichts dagegen? Völlig kontraproduktiv sind die Studiengebühren.

(Björn Thümler [CDU]: Studienbeiträge, bitte!)

Nur noch 14 % der Studierenden stammen aus sogenannten einfachen Verhältnissen. Auch Kinder der Mittelschicht sind immer seltener an den Hochschulen vertreten.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN Daniela Krause-Behrens [SPD]: So ist es!)

Das ist seit Jahren bekannt.

(Professor Dr. Dr. Roland Zielke [FDP]: Damals gab es noch gar keine Studiengebühren!)

Gerade Kinder aus bildungsfernen Schichten, die sich, wenn überhaupt, für ein Ingenieursstudium entscheiden, werden durch Studiengebühren abgeschreckt.

(Björn Thümler [CDU]: Falsch! Dr. Bernd Althusmann [CDU]: Unsinn!)

Meine Damen und Herren, Niedersachsen ist Auswanderungsland Nummer eins, zumindest für Studierende. Kein anderes Bundesland verliert so viele Studierende wie Niedersachsen. Zum Wintersemester 2006/2007 waren es 27 300 Studierende mehr, die wir an andere Bundesländer abgegeben haben, als Studierende zugewandert sind.

(Johanne Modder [SPD]: Tendenz steigend! Hessen!)

Das waren rund 2 000 Studierende mehr als noch zum Wintersemester 2004/2005. Ich prophezeie Ihnen: Diese Zahl wird weiter wachsen. Der Druck wird größer werden. Hessen lockt als Zuwanderungsland für Studierende. Wir begrüßen, dass Hessen die Studiengebühren abgeschafft

(Lebhafter Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

und das Gesetz dazu auf den Weg gebracht hat.

(Dr. Manfred Sohn [LINKE]: Und der Ministerpräsident verweigert die Unterschrift!)

Wir kämpfen weiter dafür, dass Niedersachsen diesem guten Beispiel folgen wird. Es kann doch nicht sein, dass der Wissenschaftsminister Studierende mit Gebühren aus dem Land treibt und der Wirtschaftsminister über fehlende Fachkräfte jammert.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN Ja! bei der SPD)

Meine Damen und Herren, es gilt nicht allein Studierende zu gewinnen. Wer ein Studium beginnt, muss es auch unter guten Bedingungen zu Ende bringen können.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Studierende an niedersächsischen Hochschulen brauchen dringend eine bessere Betreuung durch zusätzliches wissenschaftliches Personal in der Lehre. Seit Einführung der gestuften Studiengänge brechen immer mehr Studierende ihr Studium ab. Offensichtlich erfüllen sich die an die Einführung des gestuften Studiensystems geknüpften Erwartungen nicht. Mit Sorge sehe ich die Entwicklung an den Fachhochschulen. Dort beträgt die Abbrecherquote 39 %. Zu viel Stoff in zu wenig Zeit bei gleichzeitig schlechter Betreuung und zu wenig Lehrpersonal. Deshalb brauchen wir dringend eine Qualitätsoffensive für die Lehre. Das heißt: bessere Betreuung, kleinere Lerngruppen und mehr Dozenten.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, Ihr Antrag will vor allem zwei Aspekte in die Qualifizierungsinitiative einbeziehen Herr Nacke erwähnte das : Die niedersächsischen Konzepte für die Hochschulentwicklung genauso wie die Absicherung des Hochschulpaktes 2020. Das heißt: ausreichend Studien- und Ausbildungsplätze für die doppelten Abiturjahrgänge. Die geburtenstarken Jahrgänge stehen vor der Tür. Diesen demografischen Glücksfall gilt es zu nutzen. Denn diese jungen Menschen brauchen Ausbildungs- und Studienplätze. Wenn es uns nicht gelingt, diese große Chance zu nutzen und heute die qualifizierten Fachkräfte für morgen auszubilden, wäre dies verhängnisvoll.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Aber, meine Damen und Herren, die Landesregierung ist auf dem besten Wege dazu, diese Chance verstreichen zu lassen.

(Detlef Tanke [SPD]: Wie immer!)

In nur vier Jahren wurde in der letzten Legislaturperiode fast jeder fünfte Studienplatz abgebaut, davon 2 000 allein an Fachhochschulen. Sie gehören zu den 11 200 Studienplätzen, die jetzt mühsam mithilfe des Bundes im Hochschulpakt 2020 wieder aufgebaut werden müssen.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Peinlich, peinlich!)

Bislang trennen Niedersachsen von diesem Ziel noch mehr als 10 000 Studienplätze. Gelingt der Ausbau der Studienplätze nicht, besteht die Gefahr, dass niedersächsische Abiturienten zum Studieren in andere Bundesländer gehen und nach dem Studium auch dort bleiben. Das wollen wir natürlich nicht.

Meine Damen und Herren, Bildung ist für die SPD ein ganz zentrales Thema. Immer wieder haben wir in unseren Anträgen Chancengleichheit und die Öffnung der Hochschulen für Berufstätige eingefordert. Für die doppelten Abiturjahrgänge haben wir bereits mit der Einführung des G 8 den Ausbau von Studienplätzen verlangt. Von all dem wollten Sie nichts wissen und haben unsere Anträge abgelehnt. Wir sind froh, dass auch Sie jetzt die Notwendigkeit zum Handeln erkennen, und freuen uns auf die Ausschussberatung. Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)