Politik, Wirtschaft und Privatpersonen – sie alle waren in Niedersachsen Ziele der Stasispionage. Seit nunmehr einem Jahr beschäftigt sich eine Enquetekommission des niedersächsischen Landestags, deren Vorsitzende die für Laatzen, Pattensen und Sehnde zuständige SPD-Landtagsabgeordnete Dr. Silke Lesemann ist, mit den Machenschaften des DDR-Ministeriums. Bei einem wissenschaftlichen Symposium am Wochenende im Landtag richtete sich die Kommission erstmals an eine größere Öffentlichkeit.

Das zweitägige wissenschaftliche Symposium trug den Titel „Verrat an der Freiheit – Machenschaften der Stasi in Niedersachsen aufarbeiten“ und fand im Interims-Plenaraal statt. Mit mehreren wissenschaftlichen Vorträgen - unter anderem ging es auch um den Tod des früheren DDR-Fußballers Lutz Eigendorf 1983 in Braunschweig – diskutierten Historiker sowie Experten erste Ergebnisse.

„Dass dieses brisante Thema 25 Jahre nach dem Ende der DDR in das öffentliche Interesse geriet, ist einer Reportage des NDR zu verdanken“, sagte Lesemann in ihrer Begrüßungsrede. Bisher hat sich noch kein Landtag aus dem Gebiet der früheren Bundesrepublik mit der Bespitzelung durch die Stasi beschäftigt. „Zur Aufarbeitung des Unrechts darf aber nicht nur auf den Ursprung des Ministeriums für Staatssicherheit in den östlichen Bundesländern geschaut werden, sondern die historische Auseinandersetzung sollte auch in Niedersachsen erfolgen, solange es noch Zeitzeugen gibt“, so Lesemann weiter. Dass ausgerechnet Niedersachsen bei der Aufarbeitung der Stasi-Machenschaften eine Vorreiterrolle übernimmt, sei auch auf die geographische Lage des Bundeslandes zurückzuführen, wie Landtagspräsident Bernd Busemann deutlich machte. Immerhin habe ein großer Teil der innerdeutschen Grenze direkt an Niedersachsen entlang geführt – für die Bevölkerung war die Todeszone ganz nah und zum Teil bittere Realität.

„Mit dieser Arbeit betreten wir Neuland. Denn eine systematische Aufarbeitung, wie die Stasi in Niedersachsen oder in anderen Bundesländern gewirkt hat, gibt es noch nicht“, betonte Lesemann. Bei der politischen Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit in Niedersachsen geht es vor allem darum, zu erfahren, welche Ziele das DDR-Ministerium verfolgte, wer Täter und wer Opfer war und inwieweit Behörden, Unternehmen und Parteien unterwandert waren. „Wenn es der Enquetekommission gelingt, valide Ergebnisse zu präsentieren, könnte sie für andere westdeutsche Bundesländer einen Vorbildcharakter einnehmen“, sagte Lesemann.

So agierte die Stasi in Niedersachsen:

Die Stasi beschäftigte sich nicht nur mit inneren Angelegenheiten, auch auf niedersächsischem Boden war das DDR-Ministerium aktiv. Es bespitzelte ranghohe Politiker, hatte Informationsquellen in wichtigen Behörden und eingeschleuste Agenten in der Wirtschaft. Rund 200 Menschen gaben noch ein Jahr vor der Wende im Jahr 1988 in Niedersachsen Informationen an das Ministerium für Staatssicherheit weiter.

„Die Stasi-Aktivitäten haben sich nach ersten Erkenntnissen vor allem auf militärische und sicherheitspolitisch relevante Einrichtungen, aber auch auf die Privatwirtschaft konzentriert“, sagte die Vorsitzende der Enquetekommission des niedersächsischen Landtages zur Aufarbeitung der Stasi-Machenschaft in Niedersachsen, Dr. Silke Lesemann. Von Interesse waren insbesondere die Bundeswehr, aber auch für die innere Sicherheit zuständige Institutionen wie das niedersächsische Innenministerium, der Verfassungsschutz, die Polizei, Zoll und der Bundesgrenzschutz. „Sogar die Bespitzelung studentischer Milieus, wie beispielsweise an der Uni Hannover, die intime Kenntnis einzelner Fachschaften bis hin zu den Gewohnheiten einzelner Personen, war bis Ende der 80er Jahre Gang und Gäbe“, sagte Lesemann.

Die meisten Spitzel – rund 30 bis 40 Prozent - waren aber wohl in der Privatwirtschaft im Einsatz. „Mit Industriespionage versuchte die DDR die Defizite der eigenen Wirtschaft auszugleichen“, sagte die Historikerin Daniela Münkel, Projektleiterin beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Inwieweit zum Beispiel auch Volkswagen von dieser Spionage betroffen war, ist derzeit noch unklar.

Um an Informationen zu gelangen, setzte die Stasi in Niedersachsen allerdings nicht nur Spitzel ein. Auch eine breite Funkaufklärung seit den siebziger Jahren und sogar Entführungen insbesondere in der Zeit vor dem Mauerfall waren gängige Methoden. Der bis heute bekannteste Fall für das Wirken der Stasi in Niedersachsen ist der des früheren DDR-Fußballers Lutz Eigendorf, der 1983 bei einem Autounfall in Braunschweig ums Leben kam. Bis heute ist unklar, welche Rolle die Stasi beim tragischen Schicksal des Profisportlers spielte.

Auch die demokratischen Parteien der Bundesrepublik gerieten ins Blickfeld des DDR-Ministeriums. „Besonders die SPD war im Fokus der Stasi“, sagte Münkel. Es ist davon auszugehen, dass auch einige niedersächsische Landtagsabgeordnete aktiv Informationen an die Stasi weitergegeben haben – Belege dafür gibt es bisher keine. Bestätigt sind hingegen Spitzel im niedersächsischen Innenministerium und beim Verfassungsschutz.

Doch wieso unterstützten ranghohe Beamte und Politiker die menschenverachtende Politik der DDR? Neben einigen wenigen Überzeugungstätern und der Abenteuerlust als Antrieb ging es aber wohl vor allem ums Geld. „Ein Spitzel im niedersächsischen Verfassungsschutz hat für seine Aktivitäten im Jahr 40.000 Mark von der Stasi erhalten“, sagte Münkel. Immer wieder suchte die Stasi daher nach meist männlichen Kontakten, die in finanziellen Schwierigkeiten geraten waren. Von einem „unterwanderten“ Bundesland möchte Münkel trotz alledem aber nicht sprechen. „Die Spionage durch die Stasi konnte zwar einige Erfolge feiern, die lagen aber hauptsächlich bei der Industriespionage.“