Eine Enquetekommission soll die Ziele und Machenschaften der Stasi in Niedersachsen aufarbeiten und auch bislang unbekannte Täter identifizieren. Dr. Silke Lesemann, die für Laatzen, Pattensen und Sehnde zuständige SPD-Landtagsabgeordnete, sprach heute (Mittwoch) zu diesem Thema im Landtag.

Die Rede von Dr. Silke Lesemann, zum Tagesordnungspunkt "Einsetzung einer Enquetekommission Verrat an der Freiheit - Machenschaften der Stasi in Niedersachsen aufarbeiten".

- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren!
Im Mittelpunkt dieser Debatte steht ein brisantes und noch immer nicht umfassend aufgearbeitetes Thema unserer Geschichte: die Arbeit von Spionen des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit in Niedersachsen. Wie die NDR-Redakteure Angelika Henkel und Stefan Schölermann, die für diese sehr gute journalistische Arbeit größtes Lob verdienen, aufgedeckt haben, standen Ende der 1980er-Jahre mindestens 200 Menschen zwischen Harz und Nordsee als sogenannte Inoffizielle Mitarbeiter in den Diensten der Stasi. Das ist eine erstaunlich hohe Zahl.

Warum war Niedersachsen gerade so interessant für die Stasi? - Sicherlich waren es die geografisch-strategische Lage, die eine Rolle spielte, die Möglichkeit, vom Wasser aus abzuhören, sowie wichtige Industrie- und Forschungseinrichtungen. Offensichtlich war das Ministerium für Staatssicherheit, das MfS, in seinem Sinne auch „erfolgreich“ in unserem Bundesland. Es gelang die Unterwanderung des niedersächsischen Verfassungsschutzes durch die Platzierung zweier Doppelagenten - ausgerechnet in einer Behörde, die sich die Bekämpfung der Ostspionage auf ihre Fahnen geschrieben hatte.

Einen besonders gelungenen Coup landete die Stasi mit der Anwerbung einer Sekretärin im niedersächsischen Innenministerium, die in der sogenannten Geheimregistratur beschäftigt war - einem Ort, zu dem nur ausgesuchte Beamte Zugang hatten. Hier lagerte u. a. der Plan zur Zivilverteidigung - ein derart delikates Dokument, dass von ihm keine Abschrift angefertigt werden durfte. Irene S., die Sekretärin, tat es trotzdem.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen, meine Herren,
zwar konnte die DDR trotz ihres dichten Spionagenetzes in West- und Ostdeutschland ihren Zusammenbruch nicht verhindern. Aber die Stasi war der Apparat und die große Stütze, ohne die die DDR nicht so lange hätte überleben können. Die Stasi war das Rückgrat des Überwachungsstaates DDR und mitverantwortlich für eine Gesellschaft, die unfrei leben musste. Kernelemente dieser Unfreiheit, Überwachung und Bespitzelung versuchte sie auf Niedersachsen zu übertragen. Die Folgen davon, meine Damen und Herren, werden wir in dieser Enquetekommission untersuchen. Psychische und psychologische Barrieren markieren das System der Unfreiheit à la DDR. Während die Mauer freies Reisen der DDR-Bürger verhinderte, bildete die Stasi in den Köpfen der Menschen die Mauer, die ein freies Denken und eine freie Entfaltung verhindert hat.

Die Stasi hat mit ihren Machenschaften vielen Menschen schweren Schaden zugefügt. Sie hat durch ihre Bespitzelung Leben und Lebensläufe zerstört, sie hat Menschen getötet und auch gefoltert. Sie hat Menschen und Bürger systematisch in Angst und Schrecken versetzt. Doch was hat Menschen in Westdeutschland dazu bewogen, für diese totalitäre Organisation zu arbeiten? - Die Motive konnten höchst unterschiedlich sein. Es gab sicherlich ideologisch motivierte Überzeugungstäter, die die DDR stützen wollten; eine weitere Gruppe, die aufs Geldverdienen aus war, denn man konnte damit wirklich ordentlich Geld verdienen, und wiederum andere, die einfach zur Spionage erpresst wurden, und manche ließen sich von der Stasi anwerben, weil sie Verwandte in der DDR hatten und befürchteten, denen könnte etwas passieren. Das soll keine Entschuldigung sein, sondern lediglich eine Erklärung. Denn allen westlichen Stasi-Mitarbeitern musste klar sein, dass die an die DDR weitergegebenen Informationen Menschen existenziell bedrohen konnten.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen, meine Herren,
wer dem Thema nähertritt, erhält verstörende Einblicke. Die Bespitzelung studentischer Milieus wie beispielsweise an der Universität Hannover in den 70- und 80er-Jahren, die intime Kenntnis einzelner Fachschaften bis hin zu den Gewohnheiten einzelner Personen waren bis Ende der 1980er-Jahre gang und gäbe. Politisch interessant waren natürlich auch Einblicke in die Parteienlandschaft. So liegen allein 500 Seiten über die niedersächsische SPD vor, die von einem einzelnen Spitzel verfasst worden sind. Hannover als Landeshauptstadt und Messestandort mit seinen zahlreichen Hotels und privaten Quartieren zog besonderes Interesse auf sich. Berichte, die auch die persönlichen Belange der Vermieter betrafen, sind aktenkundig. Zur operativen Aufklärung gehörten aber auch die Auskundschaftung von Friedhöfen für geheime Verstecke oder die Beobachtung von strategisch nutzbaren Einrichtungen wie z. B. die Wasser- und Schifffahrtsbehörde am Waterlooplatz oder die sogenannte Residentur Mitte vor den Toren Hannovers in Garbsen. Hier unterhielt die Stasi offensichtlich ein besonders dichtes Spitzelnetzwerk, das geheimste Militärunterlagen in die DDR schleuste. Offenkundig waren die Aktivitäten der Stasi nicht nur auf die DDR beschränkt, sondern haben auch Unrecht nach Niedersachsen getragen.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen, meine Herren,
vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, dass wir uns überfraktionell auf die Einsetzung einer Enquetekommission verständigt haben. Übrigens geschieht das nicht besonders häufig. Meinen Informationen nach wird das erst die vierte Enquetekommission in der Geschichte des Hauses sein, die auf diese Weise nach § 18 a der Geschäftsordnung des Landtags eingesetzt wird. In dieser Kommission können wir uns gemeinsam mit den noch zu berufenden Sachverständigen vertiefend mit den Machenschaften der Stasi in Niedersachsen beschäftigen. Offensichtlich waren etliche Einrichtungen von Bund und Land von Stasi-Spionage betroffen. Wir wollen die innere Logik und die Ziele dieses Überwachungssystems besser verstehen. In welchem Umfang betrafen Repression und Einschüchterung Menschen in Niedersachsen? Wer sind die Täter? Wer waren die Opfer?
Gerade weil die Vorgänge unsere jüngere Vergangenheit betreffen, sind die Chancen groß, Täter zu identifizieren, sodass eine Strafverfolgung vorbereitet werden kann. Vor allem aber den Opfern soll durch die Aufarbeitung von Stasiunrecht Gerechtigkeit widerfahren.

Die historische, fachliche Aufarbeitung ist das eine. Sie hätte zwischen zwei Buchdeckeln Platz - zweifelsohne. Das Interesse der Enquetekommission kann aber allein damit nicht zufriedengestellt sein. Die Aufarbeitung von Stasiunrecht braucht öffentliche Aufmerksamkeit. Und das kann mit dieser Kommission gelingen. Von diesem Parlament geht die Ansage aus: Euer Schicksal ist uns nicht gleichgültig. Und das ist wichtig. Mit dem Einsetzen der Kommission wollen wir Licht ins Dunkel der Machenschaften von Stasimitarbeitern in Niedersachsen bringen. Als Historikerin freut es mich besonders, dass dieses wichtige Thema aufgegriffen wird. Die Ergebnisse unserer Untersuchungen sollen Licht in ein nicht zur Genüge aufgearbeitetes Kapitel unserer Geschichte bringen. Sie sollen aber auch mehr sein: Erinnerungskultur und eine Mahnung. Nie wieder soll sich dieser Teil der Geschichte wiederholen, nie wieder darf es einen solchen Überwachungsstaat wie die DDR geben.
Danke.